Das Ende von Rojava?
Nein, wir meinen damit nicht das Ende des Projekts der Selbstverwaltung in Nordostsyrien, auch wenn die Lage vor Ort momentan starken Anlass zur Sorge gibt.
Angriffe der Türkei, Flucht und Vertreibung, schleichende Rückkehr der Assadregierung. Gemeint ist ein Ende der Benennung "Rojava" von unserer Seite für die Gebiete, die mit Beginn des Sommers 2012 unter einer veränderten politischen Struktur im Nordosten Syriens begannen, sich selbst zu verwalten.
Rojava – die kurdischen Kantone
Unter dem Begriff Rojava sind die die westlichen Siedlungsgebiete des kurdischen Volkes bekannt. Wird das türkisch-irakische Grenzgebiet als Zentrum eines möglichen kurdischen Staates gesehen, ergibt sich aus dieser Sichtweise für die kurdischen Gebiete in der Türkei der Name Bakur (Nordkurdistan), für die kurdischen Gebiete des Iran Rojhilat (Ostkurdistan) und die Gebiete in Irak und Syrien jeweils Bashur (Südkurdistan) beziehungsweise Rojava (Westkurdistan). Die Siedlungsgebiete in Syrien sind anders als in den anderen Ländern nicht zusammenhängend, Grund dafür ist die recht junge Grenzziehung zwischen der Türkischen Republik und des syrischen Staates im Nachgang des Ersten Weltkriegs.
Als sich ab Mitte 2012 die syrische Regierung mit Truppen und Verwaltung aus dem Nordosten Syriens zurückzog, füllten kurdische Parteibündnisse unter Führung der Demokratischen Union (PYD) das Machtvakuum. Vorerst begrenzt auf Sätdte und Gebiete mit kurdischer Bevölkerungsmehrheit nannten sie das Gebiet unter ihrer Verwaltung "Rojava".
Neue Gebiete – neues System
Im Zuge des syrischen Bürgerkriegs und des mit ihm verbundenen Kampf gegen den IS wurde es notwendig, Gebiete außerhalb des ursprünglichen Herrschaftsbereich um Afrin, Kobani und Hasakeh neu zu strukturieren. Der Machtbereich der Selbstverwaltung erstreckt sich zunehmend auf Regionen, die entweder eine assyrisch-aramäische, turkmenische oder arabische Bevölkerungsmehrheit aufweisen.
Um dieser Entwicklung auch in der Außenwahrnehmung stärker Rechnung zu tragen, wurde aus der seit Frühling 2016 genannten "Demokratischen Föderation Rojava" zum Ende des gleichen Jahres die "Demokratische Föderation Nordsyriens". Seit 2017 sind viele größere Städte mit arabischer Bevölkerungsmehrheit zusätzlich in assozierten lokalen Räten oganisiert, die weitgehend unabhängig agieren können. Dies betrifft vor allem die Regionen um Rakka, Manbij und Deir ez-Zor. Der Wandel weg vom kurdisch geprägten Verständnis über die Benennung der Region spiegelt auch das gewünschte Selbstverständnis wieder, man möchte auch sprachlich nicht mehr "das kurdische" Projekt in Syrien sein, sondern eine Verwaltung und Lebensrealtät für alle sprachlichen und religiösen Gruppen in der Region.
Förderation oder autonome Verwaltung?
Erklärtes Ziel der PYD-geführten Selbstverwaltung für eine Nachkriegsordnung war stets, eine möglichst große innere Autonomie der verwalteten Gebiete unter Wahrung der äußeren Integrität des syrischen Staates. Anders als vielfach in Analogie zur kurdischen Autonomieregion in Irak angenommen, stand eine Unabhängigkeitserklärung für "Rojava" von politischer Seite aus nicht wirklich zur Debatte, dafür waren innere und äußere Widerstände gegen einen solchen Schritt zu massiv.
Da eine Nachkriegsordnung im Sinne der Bevölkerung der verwalteten Gebiet langfristig aber nur über eine Einigung mit Bashar al-Assad zu erreichen war, der eine föderale Verwaltung Syriens strikt ablehnt, erfolgte 2018 der vorerst letzte Schritt in der Umbenennung des verwalteten Gebiets. Obwohl dem inneren Aufbau nach eine Föderation, wurde sich entschlossen den Titel "Autonome Verwaltung Nordostsyriens" (Autonmous Adminstration of North and East Syria, AANES) zu wählen.
Und nun?
Wenn wir intern über unsere Arbeit in Nordostsyrien kommunizieren, schwanken wir auch zwischen Begrifflichkeiten. Nordostsyrien ist der geografisch korrekte Terminus, schließt aber Gebiete wie Deir ez-Zor aus, das schlicht nicht im Norden Syriens liegt. Selbstverwaltet sind auch mehrere Gebiete in Syrien, auch wenn uns unsere Arbeit bisher nicht nach Aleppo oder Idlib geführt hat. Wie also klar nach außen kommunizieren ohne Artikel wie diesen regelmäßig zu schreiben und unser Publikum zu verwirren, gleichzeitig aber auch sprachlich genau bleiben UND den Wünschen unserer Partnerorganisationen und Institutionen Rechnung tragen? Und das auch noch in zwei Sprachen?
Ganz einfach: Wenn wir über Landstriche berichten, bleiben wir einfach bei der Geografie. In unserem Fall Schwerpunktmäßig Nordostsyrien. Gehen wir auf politische und administrative Belange ein, lest ihr seit einiger Zeit die Begriffe "kurdisch geführte Selbstverwaltung". Das gilt übrigens auch für die anderen Belange wie militärische Akteure, Parteien und Ähnliches.
Ab und zu wird sich bei uns auch noch eine andere Bezeichnung anfinden. Als Kampfbegriff auf Flyern, Merch und bei Demonstrationen ist Rojava bestimmt auch griffiger als die autonome Selbstverwaltung Nordostsyriens.
Aber einfacher ist nicht immer richtig. Gerade nicht in Syrien.
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