Inhalte überwinden – zur türkischen Invasion in Nordsyrien
Letzte Woche war auf tagesschau.de zu lesen, dass die Bundesregierung neben ihrer „Sorge“ über die türkische Militäraggression auch von „legitimen Sicherheitsinteressen“ spreche. Die Türkei sei ja mehrfach das Ziel von Aggressionen des IS von syrischem Boden aus gewesen. Die neunte Runde der syrischen Friedensgespräche in Wien letzte Woche wird wohl auch nicht als Erfolg in die Geschichte eingehen. Das syrische Oppositionsbündnis (SNC) sagte die Teilnahme ab. Es ist erneut nicht gelungen, die Konfliktparteien an einem Tisch zusammenzubringen. Eigentlich weiß man da jetzt gar nicht, wo man anfangen soll.
Oft genug wurde in Medien die Frage gestellt, warum die stärksten und kompetentesten Gegner*innen des IS aus „legitimen Sicherheitsinteressen“ angegriffen werden dürfen. Auch die Frage, warum ausgerechnet eines der letzten Gebiete in Syrien, in denen bislang weder Zerstörung noch Kampfhandlungen stattfanden, nun Ziel von Kampfbombern und Artillerie sein muss, wurde kritisch oft genug aufgeworfen.
Die Türkei und der Islamismus
Nun sollte er also „befreit“ werden, der Kanton Afrin. Gegen den Protest der ansässigen Zivilbevölkerung, die auf solch eine „Befreiung“ so gar keine Lust hat. Und vor allem unter Mithilfe beispielsweise turkmenischer Islamisten. Und überhaupt: Es existieren so viele Berichte und Quellen über eine Zusammenarbeit des türkischen Staates mit islamistischen Gruppierungen (nicht zuletzt dem IS selbst). Die Türkei hat es an Unterstützung bislang nicht mangeln lassen. Ob es um medizinische Versorgung verletzter Kämpfer geht, Nachschublieferungen oder auch Lieferungen von waffenfähigem Material wie zum Beispiel tonnenweise chemischen Düngemitteln (aus dem der IS die teilweise flächendeckend verlegten selbstgebastelten Minen gebaut hat). (Al-Monitor, September 1 2015).
Die Bundesregierung zieht nun als Argument für einen Angriff auf eine säkulare Region und Miliz die Sicherheitsinteressen der Türkei gegen islamistische Bedrohungen und vergangene Angriffe heran. Das zeugt entweder von einem katastrophalen Unwissen oder von gewollter Vermeidung klarer Aussagen zum Thema. Denn in der Provinz Aleppo gibt es seit 2015 keine IS-Gebiete mehr. Nicht unter den syrischen Rebellen und noch weniger im primär kurdisch bewohnten Gebiet um Afrin. Die dortigen Milizen wären wohl die ersten gewesen, die eine IS-Präsenz schnell und deutlich angemahnt hätten.
Rückgrat sieht anders aus – die Bundesregierung und die Türkei
Dabei kann man Unwissen wohl getrost von der Hand weisen. Denn um die Lage von Menschenrechten in der Türkei, und vor allem den Umgang mit den kurdischen Bevölkerungsanteilen, weiß die Bundesregierung sehr wohl. Und das nicht erst seit kurzem. Nicht erst seit dem gescheiterten Putschversuch gegen Erdogan und seine AKP-Regierung ist bekannt, dass sich die Türkei von einem potentiellen EU-Partner rasant zu einem despotischen und unkalkulierbaren Sicherheitsproblem für die regionale und internationale Politik entwickelt. Menschenrechte werden mit Füßen getreten, Abschreckung und Willkür ersetzen Verhandlungsbereitschaft und Rechtsstaat. Die Bundesregierung kommentiert dies allenfalls immer mal wieder mit schwachen Protestnoten. Statt klarer Statements gibt es immer wieder laue Aufforderungen zur Mäßigung an die Türkei. Als ob der Bogen objektiv nicht schon längst überspannt wäre. Wirtschaftsinteressen stehen hier offensichtlich deutlich voran.
Deutsche Waffen im Angriffskrieg
Nirgends werden momentan die Wirtschaftsinteressen deutlicher, als in den deutschen Waffendeals mit der Türkei. Der Angriffskrieg auf Afrin wird zurzeit mit Panzern aus deutscher Produktion gefahren. Und gerade um die Aufrüstung dieser Panzer bittet die Türkei genau jetzt Deutschland. Wenigstens diesem Ansinnen wurde erstmal nicht entsprochen. Dahingegen war der Presse zu entnehmen, dass die Bundesregierung „sich nicht dazu äußere“, ob deutsches Waffenexportgut momentan in der Afrin- Offensive im Einsatz wäre. Ein Hohn, eingedenk der Möglichkeiten, sich selbst als Laie mit aktuellem Bildmaterial zu versorgen. Wenn eine Bundesregierung, die neben diplomatischen Beziehungen auch noch über diverse Nachrichtendienste verfügt, sich so dumm stellt, dann weil sie grade so dumm sein möchte. Wäre ja auch zu schwierig zu erklären, warum nicht spätestens jetzt deutlich interveniert wird.
Und nur nebenbei, man kann von dem syrischen Diktator und Menschenrechtsverbrecher Assad halten was man will. Aber wenn seine Regierung die türkische Offensive öffentlich verurteilt, braucht es für die Bundesregierung eigentlich nicht mehr viele Informationen, um zumindest eine grundsätzliche rechtliche Einordnung der türkischen Offensive vorzunehmen. Sie ist von der syrischen Regierung dem Vernehmen nach nicht gewollt, die lokale Bevölkerung hat sie nicht gewollt, und von Afrins Boden gingen keine Angriffe gegen türkisches Territorium aus!
Kein Wunder also, dass die Bundesregierung von legalen Sicherheitsinteressen in Bezug auf den IS fabulieren muss…egal wie weit diese Entschuldigung des Stillschweigens auch hergeholt sein mag.
Größenwahnsinn und Diktatur – Erdogan und die humanitäre Frage
Erdogan stellte sich noch im Frühjahr 2011 geradezu mustergültig auf die Seite der damals noch friedlich protestierenden Syrer*innen und gewährte knapp 2,6 Millionen von ihnen Schutz, als Assad das Land in den Bürgerkrieg führte. Spätestens seit dem Erstarken kurdischer Kräfte, die an der türkisch-syrischen Grenze eine weitgehende Autonomie auf syrischem Gebiet durchsetzen, wandelte sich der gute Samariter. Während Checkpoints in von dschihadistischen Milizen gehaltenes Gebiet bis Sommer 2014 offenbleiben konnten, wurde die Grenze zu den kurdisch verwalteten Regionen rigoros abgeriegelt. Kein Rauskommen – mit Ausnahme der Eskalation in Kobane – und kein Reinkommen. Nicht für grenzüberschreitenden Personen- und Warenverkehr und nur in absoluten Ausnahmefällen für humanitäre Konvois. Seit 2016 ist auch für humanitäre Organisationen der Weg gesperrt – der Vorwurf „Terrorunterstützung“ zieht!
Gleichzeitig mit der massiven militärischen Absicherung der vorher fast grünen Grenze eskaliert die AKP geführte Regierung die Lage gegenüber den syrischen Kurdengebieten immer dann, wenn es innenpolitisch genehm ist. Die zunehmend autoritär anmutende Situation in der Türkei wird damit zusätzlich ergänzt um Großmachtstreben in der Region, ein Konzept, das angesichts der volatilen Lage zusätzliche Migrationsbewegungen verursacht.
Afrin – eine der letzten Enklaven
Afrin, die am westlichsten gelegene kurdische Siedlungsinsel an der türkischen Grenze, hatte bis zum Beginn der Offensive am 20. Januar 2018 das Glück, von großflächigen Kriegshandlungen verschont zu bleiben. Keine syrischen Fassbomben, keine russischen Fliegerangriffe. Auch Angriffe syrischer Rebellen gleich welcher Couleur bildeten sporadische Ausnahmen. Die (Schatten)-Wirtschaft verschaffte der isolierten Bevölkerung im Vergleich zum Rest des Landes ein erträgliches Leben. Binnengeflüchtete aus dem gesamten Land suchen Schutz in dieser kleinen Enklave, arabische Sunniten, kurdische Yeziden und andere Bevölkerungsgruppen. Dieses fragile Gleichgewicht droht Erdogan mit der militärischen Intervention bewusst zu zerstören. Er nimmt in Kauf, dass auch eine der letzten halbwegs sicheren Gegenden in Syrien in die Absurdität dieses Konflikts hineingezogen wird. Nicht, um den Menschen Schutz vor Terror zu bieten, sondern lediglich des eigenen Machtstrebens willen.
Die Sache mit der PKK
„Syrischer Ableger der PKK“, „Nähe zur PKK“, „Schwesterpartei“. So viele Zeitungen wie aufgeschlagen werden, so viele Beschreibungen der PYD und der YPG/YPJ findet man. Ebenso viele Einschätzungen zur Frage des „Terrorismus“. In den USA und Europa als terroristisch eingestuft oder auch nicht, geht doch an der eigentlichen Frage vorbei. Denn egal wie solidarisch wir als Hilfsorganisation uns mit dem Gesellschaftssystem in Rojava aufstellen oder wie kritisch sich andere damit auseinandersetzen: Die Tatsachen sprechen für sich:
Von der Region, die nun mit Krieg überzogen wird, gingen keine Aggressionen gegen türkisches Staatsgebiet aus!
Viele Zivilist*innen, die innerhalb Syriens geflohen waren fanden hier eine relativ ruhige Zuflucht. Es gibt dort eine lokale Wirtschaft, die einigermaßen funktioniert. Wenn ein Staat im Kampf – gegen wen oder was auch immer er sich wähnt – auf die Interessen und die Sicherheit von ziviler Bevölkerung scheißt, entpuppt er sich als menschenverachtend. Für die Türkei nichts Neues, trotzdem soll es hier nochmal deutlich betont werden. Dieser Angriffskrieg trifft eine der letzten stabilen Regionen in einem zerstörten Land.
Für den Hass von Erdogan und AKP auf alles Kurdische wird hier auf eine der vulnerabelsten Bevölkerungen unserer Zeit, die syrische, eingeprügelt. Wie auch immer man zur PKK/YPG/SDF steht, diesen Angriffskrieg kann man auch rein humanitär einfach nur verurteilen.
Was bleibt ist Zynismus
Ein Post bei Facebook sprach davon, dass man jetzt ja mal sehen könnte, was die an die kurdischen Milizen gelieferten Milan-Panzerabwehrraketen aus deutscher Produktion gegen die türkischen Leopard-Panzer aus deutscher Produktion so ausrichten könnten. Realität, die an Zynismus (Danke geht an den Postillon) kaum noch zu überbieten ist.
Aber nur „kaum“. Eat this:
Die SPD biedert sich auf der einen Seite einer neuen GroKo an. Sie trägt diese Waffenexporte mit. Und auf der anderen Seite trägt sie aber auch Flüchtlingsobergrenzen mit. Und das alles, damit der deutsche Bildzeitungsleser (der von den Steuereinkünften aus Rüstungsexporten profitiert) sich „gehört“ fühlt in seiner Ablehnung jener Menschen, die unter diesen Rüstungsexporten leiden…
Hier wurde der oben beschriebene Zynismus doch nochmal deutlich überboten.
Unser einziger Ausweg aus der kompletten Verzweiflung ist das Festhalten an dem Versuch, alles Mögliche zu tun, um diesem Irrsinn eine menschliche Komponente entgegenzuhalten. Und weiterhin in den Kriegsgebieten unsere Hilfe anzubieten, und hier in Deutschland weiter, so hoffnungsarm es auch sein mag, gegen den Rechtsruck in der Politik anzukämpfen.
Ende der Durchsage.
Foto: Christoph Löffler – Das Bild zeigt eine Straßenbarrikade in Serekaniye, Syrien 2015
Veröffentlicht:
Verfasser*in: Kristof Kietzmann und Sebastian Jünemann
by CadusPR
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