Ein Mann in blauem Medizinkittel behandelt den Arm einer vollverschleierten Frau, während zwei kleine Kinder vor ihnen stehen.
Die medizinische Versorgung an einem Ort wie dem al-Hol Camp mit mehreren zehntausend Menschen aufrechtzuerhalten ist eine mehr als herausfordernde Aufgabe. Vier Jahre haben wir uns ihr mit unseren Kolleg:innen vor Ort gestellt – jetzt haben sie das Krankenhaus übernommen. Foto: CADUS

Menschlichkeit an einem der härtesten Orte der Welt Rückblick auf vier Jahre CADUS Field Hospital im Camp Al Hol

Am 30. Juni 2023 war es soweit: CADUS hat das Camp Al Hol, in dem wir ein Feldkrankenhaus aufgebaut und die Camp-interne Rettungsleitstelle unterstützt haben, für immer verlassen. Doch wir wissen das Field Hospital in guten Händen: unsere Mitarbeiter:innen vor Ort haben ihre eigene Organisation gegründet und die Leitung übernommen. Zeit für einen Rückblick auf vier herausfordernde Jahre in Nordost-Syrien, in denen wir viel gebangt, aber auch viel gelernt haben.

Wie Al Hol zu einem gefährlichen Ort wurde

Als wir 2019 angefangen haben, in Al Hol zu arbeiten, diente es als IDP-Camp: ein Lager für Internally Displaced Persons, also für Menschen, die gezwungen sind ihr zu Hause zu verlassen und im Camp temporär Zuflucht finden. Doch viele, die heute die Realität vor Ort täglich erleben, verwenden zunehmend den Begriff Detention Camp: ein Gefangenenlager, dessen humanitärer Charakter durch restriktive Sicherheitsmaßnahmen, andauernde Gewalt und permanente Unterversorgung zusehends verloren geht.

Ein Ort der Menschlichkeit an einem gefährlichen Ort: unser Krankenhaus mit rotem Rahmen wird auch jetzt, nach unserer Übergabe an die Organisation Șîlêr, die Menschen im Camp nach Kräften unterstützen. Foto: CADUS

Die aktuelle Situation ist entstanden aus dem raschen Anwachsen des Camps, als der sogenannte Islamischen Staates (IS) aus Baghuz, seiner letzten Hochburg in Syrien, Anfang 2019 vertrieben wurde. Tausende Familien, die vor den Kämpfen flohen, sowie die Familien der besiegten IS-Kämpfer, wurden in Al Hol untergebracht. Das ursprünglich während dem Golfkrieg 1991 errichtete Camp wuchs innerhalb weniger Wochen von 10.000 auf fast 75.000 Menschen an. Die Infrastruktur war schnell überlastet, und es entwickelten sich Spannungen innerhalb der Camp-Bevölkerung. Aktuell gibt es eine hohe Kriminalität, und die immer mehr durchgreifenden Sicherheitskräfte werden im Zuge dessen zu einer weiteren Konfliktpartei.

Zwar nimmt die Bevölkerungszahl langsam ab und liegt derzeit bei etwa 55.000, doch viele Länder weigern sich nach wie vor, ihre Staatsangehörigen aus dem Camp zurückzunehmen. Diese Menschen zu versorgen wird der AANES (Autonomous Administration of Northeast Syria) überlassen, die seit Jahren in einem zermürbenden Konflikt sowohl dem syrischen Assad-Regime die Stirn bietet als auch Invasionen von Erdogans Türkei abwehren muss. Dass die mehrheitlich aus Frauen und Kindern bestehende Camp-Bevölkerung unter extremer Perspektivlosigkeit leidet, ist kaum verwunderlich.

Das Camp wuchs innerhalb kürzester Zeit um das 7-fache und war mit über 75.000 Bewohner:innen so groß wie eine mittelgroße deutsche Stadt wie z.B. Marburg. Foto: CADUS

Wie CADUS dazu kam, sich im Camp Al Hol zu engagieren

CADUS ist bereits seit Ende 2014 in Nordost-Syrien aktiv. Anfang 2019 steckten wir in der Planung eines neuen Trauma Stabilization Points (TSP), um Schwerverletzte für den Weitertransport in Krankenhäuser zu stabilisieren. Aufgrund der kritischen und immer weiter eskalierenden Versorgungssituation im rasant anwachsenden Camp Al Hol bat uns die WHO, diesen Plan fallenzulassen und stattdessen den Aufbau des Feldkrankenhauses zu unterstützen.

Wir sagten zu und in Kooperation mit unserer langjährigen Partnerorganisation, dem Kurdischen Roten Halbmond (Kurdish Red Crescent, KRC), bauten wir das Field Hospital auf. Die operative Leitung hatte KRC und stellte auch das medizinische Personal. Unsere Aufgaben lagen zunächst vor allem auf der administrativen Ebene. Außerdem unterstützten wir im medizinischen Bereich bei Fachfragen und deckten den Bereich WASH (Water Sanitation and Hygiene) ab.

Das Krankenhaus entstand in mehreren Bauphasen. Links mit rotem Rahmen der erste bereits genutzte Teil, rechts das Fundament für den zweiten Bauabschnitt. Foto: CADUS

Im Juni 2019 war der erste Teil des modularen, aus Containern bestehenden Krankenhauses fertiggestellt und nahm den Betrieb auf. Nach zwei Monaten ging die operative Leitung von KRC auf CADUS über. Glücklicherweise konnten wir das komplette medizinische Team übernehmen. Der Kurdische Rote Halbmond blieb in unserer Nachbarschaft: direkt neben dem Krankenhaus bietet KRC in ihrer Klinik medizinische Grundversorgung und überweist kompliziertere Fälle an uns. Und unsere Patient:innen kamen nicht nur von dort, sondern von überall aus dem Camp.

Medizinische Versorgung mit Hürden

Seit der kompletten Fertigstellung im September 2019 verfügt das Field Hospital über 30 Betten, eine Intensiv- und eine Isolationsstation, sowie Röntgen. Es können OPs unter Vollnarkose durchgeführt werden. Als einzige medizinische Einrichtung im Camp bietet das Field Hospital eine dauerhafte Patientenaufnahme rund um die Uhr. Die Rettungsleitstelle (Operation Desk) des Camps mit insgesamt sechs Krankentransportern wurde bis Ende 2022 ebenfalls von CADUS und KRC zusammen betrieben. Danach übernahm KRC den Betrieb komplett. Der Operation Desk stellt eine effiziente Verlegung und optimale Ausnutzung der Möglichkeiten der medizinischen Einrichtungen im Camp sicher. Von dort werden außerdem Überweisungen in Krankenhäuser außerhalb des Camps organisiert.

Das Krankenhaus stellt eine der wichtigsten Säulen der medizinischen Versorgung im Camp dar und ist stets gut ausgelastet. Foto: CADUS

Das ist keine leichte Aufgabe: die Camp-Verwaltung setzt immer höhere administrative Hürden, bevor Patient:innen das Verlassen des Camps genehmigt wird. CADUS hat sich hier im Sinne der Advocacy stark gemacht und sich immer bemüht, von der medizinischen Perspektive aus das Camp offen zu halten und Bewohner:innen in dringenden Fällen das Verlassen zu ermöglichen. Auch für die Menschen im „Annex“ genannten Teil des Camps ist mittlerweile eine Behandlung im Feldkrankenhaus möglich. Ihr Zugang zu medizinischer Versorgung ist jedoch weiterhin stark eingeschränkt, und eine Verlegung außerhalb des Camps wird auch bei lebensbedrohlichen Notfällen kaum zugelassen.

Medien und Menschlichkeit

Im Annex sind sogenannte Drittstaaten-Angehörige untergebracht: diejenigen, die aus anderen Ländern kamen um sich dem IS anzuschließen. Die Tatsache, dass viele ehemalige Anhänger:innen des sogenannten Islamischen Staates, und auch einige der Ideologie mutmaßlich noch Anhängende in Al Hol untergebracht sind, hat dem Ort in der internationalen Presse immer wieder den Namen „Terrorcamp“ eingehandelt. Das ist auch an CADUS nicht spurlos vorbeigegangen. In den Sozialen Medien tauchten Kommentare auf, die sich abfällig über unsere neuesten Patient:innen äußerten und uns für deren Unterstützung kritisierten.


Ungeachtet der Kontroversen und schwierigen Verhältnisse vor Ort setzten unsere Kolleg:innen die wichtige humanitäre Arbeit fort. Foto: CADUS

Doch für uns war klar: es ist unser humanitärer Auftrag, Menschen in Notsituationen zu helfen, und nicht, über sie zu richten. Wir haben mit dem Feldkrankenhaus einen Ort der Menschlichkeit und des Respekts an einem der härtesten Orte der Welt geschaffen, und dafür unheimlich viel von unseren Patient:innen und Kolleg:innen zurück bekommen.

Plötzlich der Angriff

Wenn wir uns in Nordost-Syrien fortbewegt haben, wurden wir jeden Tag daran erinnert, dass wir uns in einem militarisierten Konfliktgebiet befinden: es müssen immer wieder bewaffnete Straßensperren, sogenannte Checkpoints, passiert werden. Mal trifft man auf einen US-Amerikanischen und mal auf einen russischen Konvoi. Niemals alleine bewegen, sondern immer mit Fahrern, die sich auskennen. Wissen, welche Straßenzüge von wem kontrolliert werden, und wo man auf keinen Fall falsch abbiegen darf. Das klingt für manche vielleicht krass, und doch wird es schnell zur Normalität, in der man gemeinsam mit allen Menschen vor Ort lebt.

Frauen in Vollverschleierung und mit westlicher Kleidung nebeneinander – auch ein Bild das in al-Hol schnell zur Normalität wird. Foto: CADUS

Im Oktober 2019 war plötzlich alles anders: in einer Großoffensive griff die Türkei den Norden Nordost-Syriens an, um die Grenze des von ihnen kontrollierten Gebietes weiter nach Süden zu verschieben. Der Angriff galt vor allem dem kurdischen Teil der Bevölkerung und hatte ihren Ursprung in innenpolitischen Entwicklungen in der Türkei. Doch betroffen waren alle, die in dem angegriffenen Gebiet lebten. Ein Teil unseres Teams war damals in Tal Tamar untergebracht, das genau an der Grenze des von der Türkei zur Besetzung vorgesehen Gebietes liegt.

Unser Team handelte schnell: dem lokalen Krankenhaus haben wir Unterstützung angeboten, um die auf der Flucht Verletzten zu behandeln. Und wir haben die Ausgabe von Essenspakten an die Flüchtenden organisiert. Als die Kämpfe zu heftig wurden, mussten wir uns nach Hassakeh zurückziehen. Doch als es auch dort Luftangriffe gab, wurde eine schwere Entscheidung getroffen: die Internationals aus dem CADUS Team mussten Nordost-Syrien verlassen. Das war sicherlich einer der bittersten Momente in unserer Geschichte und hat uns unsere Privilegien als humanitäre Helfer:innen deutlich gemacht. Denn so sehr wir auch mit allen vor Ort auf Augenhöhe arbeiten wollen, wenn es zu hart wird, dann können wir gehen.


Während der türkischen Offensive unterstützten wir unsere mutigen Kolleg:innen von Heyva Sor und die von den Angriffen betroffenen Syrer:innen wo wir nur konnten. Foto: CADUS

Während unsere Internationals über die Grenze in den Norden des Irak fuhren, hielten unsere Kolleg:innen vor Ort das Feldkrankenhaus offen. Mit nur einem Drittel der üblichen Mitarbeiter:innen, da der Rest direkt an der Front oder in anderen Krankenhäusern gebraucht wurde. Ein von CADUS finanzierter Krankenwagen geriet dabei in Frontnähe unter Beschuss, der Fahrer und ein medizinischer Mitarbeiter überlebten schwer verletzt.

Gerade als wir dachten, es kann nicht mehr schlimmer kommen – das Jahr 2020

Die Freude darüber, dass wir nach dem Zurückdrängen der türkischen Angriffe wieder ins Land können, wurde bald von den neuesten Entwicklungen getrübt. Im Januar 2020 beschloss die UN die Cross Border Resolution, und erklärte die Grenzübergänge zwischen dem Nord-Irak und Nordost-Syrien für illegal. Der Zugang sollte nur noch über Damaskus in Syrien möglich sein. Eine Entwicklung, die die Machtposition des Assad-Regimes stärkte. Doch für uns als eine in Nordost-Syrien arbeitende Organisation war an eine Registrierung in Damaskus nicht zu denken. CADUS verlor schlagartig die Finanzierung des Field Hospitals durch die WHO und wir mussten uns um eine neue Förderung kümmern. Glücklicherweise wurde eine Lösung gefunden, und wir konnten durch Mittel eines neuen Geldgebers das Projekt ohne Unterbrechung weiterführen.

Mit unserer Maskenproduktion konnten wir einerseits Näher:innen ein Einkommen schaffen und gleichzeitg unseren Teil zur Infektionsprävention beitragen. Foto: CADUS

Mit einer Quarantänestation und regelmäßigen Desinfektionen haben wir das Corona-Infektionsrisiko bekämpft und so unser Krankenhaus weitgehend offen halten können. Foto: CADUS

Dann kam COVID19. Wir richteten im Feldkrankenhaus eine gesonderte Isolierstation ein, und begannen ein kleines Seitenprojekt, bei dem Stoffmasken lokal produziert und im Zuge von Hygiene-Trainings in der Region verteilt wurden. Im August 2020 wurde eine unserer Mitarbeiter:innen dann positiv getestet. Als Konsequenz haben wir das Field Hospital für zwei Wochen geschlossen, um zu verhindern, dass wir den Virus in das Camp bringen. Tragischerweise können mehrere Todesfälle von Kindern in dieser Zeitspanne direkt darauf zurückgeführt werden, dass sie keinen Zugang zum Field Hospital hatten.

Das Jahr 2020 schloss mit einem Einbruch in unser Büro in Hassakeh ab, bei dem ein großer Geldbetrag gestohlen wurde und wir in schwere Liquiditätsprobleme gerieten. Glücklicherweise konnte der Fall aufgeklärt und das Geld sichergestellt werden, doch bis dahin war es ein langer und nervenaufreibender Weg.

Kein Ende der Gewalt

Morde sind im Camp Al Hol mittlerweile sowohl ein häufiges Mittel zur Austragung von Konflikten, als auch eine gängige Art und Weise, um Politik zu machen. https://www.savethechildren.net/news/insomnia-nightmares-and-wanting-die-toll-witnessing-violence-al-hol-s-children

Unser größter Respekt gilt unseren lokalen Kolleg:innen die trotz der persönlichen Risiken immer ihre Patient:innen versorgten. Foto: CADUS

Im Januar 2022 wird ein Paramedic unserer Partnerorganisation KRC wenige Meter von unserem Feldkrankenhaus entfernt erschossen. Unser Team ist erschüttert, verängstigt und trauert. Eine Woche später eskaliert die Situation weiter, als der IS in einer Befreiungsaktion das Gefängnis in Hassakeh angreift. Viele NGOs evakuieren ihre Mitarbeiter:innen, doch das Field Hospital bleibt weiter operativ. Dies ist nur möglich, weil CADUS eng mit Organisationen wie KRC zusammenarbeitet und mit vielen lokalen Krankenhäusern im engen Austausch ist.

Ein Ende und ein Anfang

Nach vier Jahren Field Hospital Al Hol ist CADUS in der Region fest verankert, gilt als verlässlicher Partner, und ist ein beliebter Arbeitgeber. Und doch wurde eine strategische Entscheidung getroffen, sich aus der Region zurückzuziehen. Das fällt nicht leicht, einige von uns haben sehr viel gegeben, um Projekte wie das Feldkrankenhaus aufzubauen.

Șîlêr, den Bewohner:innen des Camps und der Region steht noch ein weiter, steiniger Weg bevor in eine hoffentlich friedliche Zukunft. Foto: CADUS

Und doch: letztendlich übergeben wir quasi nur „an uns selbst“. Denn schon lange sind es unsere vor Ort ansässigen Mitarbeiter:innen, die das Krankenhaus am Laufen halten. Wenigstens einmal haben wir geschafft, was das Ziel aller humanitärer Hilfsorganisationen sein sollte: wir haben uns selbst überflüssig gemacht. Die neue Organisation heißt Șîlêr Crisis Response (SCR), ist bereits voll registriert und anerkannt, und kann auch die Förderung von CADUS übernehmen.

Wir wünschen Șîlêr von ganzem Herzen Erfolg, und danken unseren Kolleg:innen vor Ort für vier intensive und lehrreiche Jahre.

Veröffentlicht:
Verfasser*in: von Corinna Schäfer

by CadusPR

„Eine Frau muss immer stark sein, um ihr Leben fortzusetzen.“

März 8th, 2022|

Farah, die anlässlich des Frauenkampftages mit uns über ihr Leben, spricht, hat viel zu erzählen. Seie arbeitet als Übersetzerin für CADUS im Geflüchtetenlager Al-Hol in Nordost-Syrien und erzählt uns von ihrer Arbeit als Lehrerin, ihrer Flucht vor dem IS und ihren Träumen.

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