Seyfo – ein vergessener Völkermord und seine Konsequenzen
Der US-Kongress hat erstmalig den Völkermord an den Armeniern vor über 100 Jahren offiziell als solchen anerkannt. Eine Nachricht, die im Trubel der türkischen Militäroffensive auf Nordsyrien untergegangen ist, aber sicher weiter für Spannungen zwischen den NATO-Parntern USA und Türkei beitragen dürfte.
Kristof Kietzmann schildert in seinem Gastkommentar die Ereignisse von damals und wie diese helfen, die heutige Situation in der Region zu verstehen.
Die in diesem Artikel geäußerten Ansichten stellen die des/der Autor*in dar und sind nicht notwendigerweise offizielle Position von CADUS e.V.
Inmitten der türkischen Militäroffensive in Nordsyrien folgte Ende Oktober eine Entscheidung des US-Kongresses, die das Verhältnis zwischen USA und der Türkei weiterhin belasten dürfte. Zum ersten Mal stufte das Repräsentantenhaus damit die zwischen 1915 und 1917 an der armenischen Zivilbevölkerung des Osmanischen Reiches durch osmanische Soldaten und kurdische Milizen begangenen Massaker und Deportationen als Genozid ein.
Ein Schritt, den vorher schon Frankreich 2001 und der Deutsche Bundestag nach langen Debatten 2016 vollzogen hatten. Die Anerkennung der Massaker als Völkermord tragen den Opfern späte Rechnung. Jahrzehntelanger politischer und diplomatischer Kampagnen von Hinterbliebenen, Diasporaorganisationen und nicht zuletzt auch Vertreter*innen des armenischen Staates ist es zu verdanken, dass das Thema auch in Westeuropa vielen Menschen ein Begriff ist. Die Massaker gegen eine christliche Minderheit in der Region wird auch heute noch von Parteien, Bündnissen und Personen Spektren übergreifend als Einschnitt in der multiethnischen und multireligiösen Geschichte Westasiens verstanden.
Fast völlig aus dem Blick gerät dabei ein weiterer Völkermord an einer weiteren christlichen Minderheit auf dem Gebiet des Osmanischen Reiches, der an der assyrischen Bevölkerung.
Assyrer, Chaldäer, syrische Christen?
Die Frage um die Benennung spaltet die aramäischsprachige Bevölkerung Westasiens entlang kirchlich-religiöser und politisch-nationaler Linien. Über die Jahrhunderte haben sich aus den urchristlichen, aramäischsprachigen Kirchengemeinden verschiedenste Kirchen mit unterschiedlichen Riten, Bräuchen und Oberhäuptern entwickelt. Zusätzlich komplizierter ist in der Neuzeit das Verständnis der eigenen Nation in Abgrenzung zu anderen Gruppen geworden, Religion, Kirchenzugehörigkeit und Sprache sind wie bei kaum einer anderen Gruppe in der Region zu einem unterschiedlichen Nationalgefühl verwoben.
In der inklusivsten und von mir genutzten Definition bezeichnet der Begriff „syrische Christen“ all jene christlichen Gemeinden und ihre Angehörigen, deren heutige Sakralsprache das Ostaramäische oder syriakisch ist. Aramäisch ist wie Hebräisch und Arabisch der semitischen Sprachfamilie zugeordnet und war vor 2000 Jahren die Umgangssprache der Bevölkerung in Westasien. Syrisch bezeichnet dabei nicht die Zuordnung zum heutigen Staat Syrien, sondern ist die griechische Bezeichnung für Aramäer, die über die Jahrhunderte zur Selbstbezeichnung wurde. So bezeichnen sich aramäischsprachige Christ*innen heutzutage vielfach als „Suroye“ oder „Suryoye“. Der Begriff Syrer oder syrisch ist für diese Gruppe also doppelt irreführend, da er nicht klar zwischen der existierenden syrischen Staatsangehörigkeit und der viel älteren aramäischen-syriakischen sprachlichen Identität unterscheidet. Werden dann noch zusätzlich kulturelle und religiöse Komponenten wie chaldäisch und assyrisch mit in den Mix geworfen, ist die Verwirrung für Außenstehende perfekt.
Syrische Christen gehören verschiedenen Kirchen an, das wiederum hat Auswirkungen auf die Fremdbezeichnung der einzelnen Gemeinden. So existiert eine assyrische und eine chaldäische Kirche, die Anhänger dieser sind also dem eigenen Selbstverständnis nach Assyrer beziehungsweise Chaldäer. Im ursprünglichen Siedlungsgebiet in der heutigen Osttürkei und dem Norden des Iraks lebten sie neben der zahlenmäßig größeren armenisch-christlichen Minderheit des Osmanischen Reiches, von der sie allerdings Sprache, religiöser Ritus und auch Gruppengefühl trennten.
Vergiftete Revolution – jungtürkische Minderheitspolitik
Die Wiedereinführung der Osmanischen Verfassung 1908 im Zuge der jüngtürkischen Bewegung sicherte zum ersten Mal seit 1876 allen Bürgern des Osmanischen Reiches gleiche Rechte, unabhängig von Religion oder Volksgruppe. Zu diesem Zeitpunkt waren christliche Gemeinschaften außerhalb der arabischen Provinzen eine der zahlenmäßig größten Minderheiten, viele osmanische Provinzen auf dem Balkan oder in Thrakien waren immerhin mehrheitlich christlich geprägt.
Stand die Jungtürkische Bewegung zu Beginn noch unter dem Motto: „Vaterland, Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ und vertrat sozial-liberale Ideen, folgte im Zuge der Balkankriege und dem Verlust der europäischen Provinzen ein Erstarken des türkisch-nationalistischen Flügels. Aus den Balkankriegen, von den europäischen Staaten mit perfider Grausamkeit gegen die muslimische Bevölkerung geführt, entwickelte sich eine schreckliche Dynamik. Millionen von Muslimen wurden zwangsweise umgesiedelt und veränderten in dem nun geschrumpften Osmanischen Reich in Westasien die Bevölkerungszusammensetzung. Christliche Minderheiten, Racheakte wegen der von Serben, Bulgaren und Montegrinern an Muslimen verübten Massakern fürchtend, wandten sich europäischen Staaten als Schutzmächten zu. Dieses wurde von der Jungtürkischen Regierung mit Sorge und zunehmender Repression beantwortet, fürchtete man eine klare Einflussnahme ausländischer, feindlicher Mächte auf die illoyale christliche Bevölkerung.
Todestrecks in die syrische Wüste
Mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs, der auf Osmanischer Seite vielfach als Weiterführung der Balkankriege und als Abwehrkampf gegen den Untergang des eigenen Reiches verstanden wurde, verschlechterte sich die Lage der christlichen Minderheiten massiv. Im Osten dem Vorwurf der Kollaboration mit dem Kriegsgegner Russland ausgesetzt, wurden nach dem russischen Rückzug aus Ostanatolien und den Nordprovinzen des heutigen Iran armenische und assyrische Dörfer gebrandschatzt, Menschen zusammengetrieben und erschossen oder aus ihren angestammten Gebieten (Tur Abdin, Hakkari) in Kolonnen ins syrische Grenzgebiet getrieben. Viele starben auf dem Weg an Unterernährung, Erschöpfung oder Krankheiten. Zusätzliche Übergriffe der sie begleitenden osmanischen Soldaten oder arabischer und kurdischer Milizen erhöhte die Anzahl der Todesopfer sowohl auf armenischer als auch assyrischer Seite zusätzlich. Schätzungen der Todesopfer für den gesamten Verlauf des Krieges schwanken stark, vermutet werden mindestens 50.000 bis 250.000 Tote.
Der Unterschied erklärt sich in der Zählung, in Massakern ermordete assyrische Christen waren identifizier- und durch die räumliche Nähe zu ihrem Wohnort quantifizierbar. Wie viele auf den Trecks in die Wüste erschossen wurden, an Wasser- und Nahrungsmangel starben oder später in den Lagern umkamen, ist weitaus schwieriger zu dokumentieren. Im kollektiven Gedächtnis syrischer Christen ist dieses Ereignis als Jahr des Schwertes verankert, „Seyfo“ bedeutet auf syriakisch Schwert.
Überlebende der Massaker und der anschließenden Todesmärsche flohen entweder in den heutigen Irak, wo in den Ebenen um Mossul seit Jahrtausenden eine syrisch-christliche Mehrheitsbevölkerung lebte oder gründeten im heutigen Syrien neue Städte. Qamishli, heute zweitgrößte Stadt in der Provinz Hasakah, ist eine Gründung syrischer Christen. Entlang des Flusses Khabour um die Stadt Hasakah herum entstand ab 1920 ein zusammenhängendes Gebiet an syrischen Gemeinden, die später durch armenische Überlebende des Völkermords ergänzt wurden. Auch die Stadt in der das Team von CADUS lange gelebt hat, in der wir das lokale Krankenhaus nach wie vor unterstützen und die jetzt seit drei Wochen umkämpft ist, war eine assyrische Gründung: Tal Tamer oder Gire Xurma, der Dattelhügel.
Anders als der Völkermord an den Armeniern ist der zeitgleich stattgefundende Völkermord an den syrischen Christen weniger im kollektiven Gedächtnis verankert. Zu zersplittert entlang kirchlicher und politischer Linien war (und ist) diese Gruppe, es fehlt ihr anders als den Armeniern an einem Nationalstaat, der diese Geschichte in ein verbindendes Narrativ umwenden könnte, als auch an einer Bewegung, die für diese gesamte Gruppe spricht.
(Fehlende) Minderheitsrechte und politischer Kampf
Auch nach dem Ende des Osmanischen Reiches und dem Beginn der Türkischen Republik setzte sich im Zuge der europäischen Militäroperationen in Westasien eine stärker werdende Turkifizierungspolitik durch. Zwischen 1919 und 1923 tobte der Türkische Unabhängigkeitskrieg gegen eine Allianz von Frankreich, Großbritannien, Griechenland und Armenien, dessen Ende einen fast vollständigen Bevölkerungsaustausch zwischen den christlichen Nachbarstaaten und der Türkei zur Folge hatte. Begleitet wurde diese Tragödie von Übergriffen gegenüber der Zivilbevölkerung auf beiden Seiten, griechische und armenische Soldaten verübten Rache für die vorangegangen Massaker, türkische Soldaten vertrieben die jahrtausendealte griechische Bevölkerung Westasiens.
Die neugegründete Republik verstand sich nach diesen Ereignissen als primär türkischer Staat, die türkischsprachige Bevölkerung sunnitischen Glaubens war die neue Titularnation*. Für viele sprachliche, religiöse oder kulturelle Minderheiten war kein gesonderter Status vorgesehen. Das galt vor allem für die größte Minderheit in der Türkei, den Kurden, und eine der kleinsten Minderheiten, den verbliebenden syrischen Christen.
Letztere begannen nach erneuten Wellen von schweren Übergriffen in den 1980er Jahren neben der Emigration nach Westeuropa einen Weg zu suchen, eine nationale Idee unabhängig von kirchlicher Zugehörigkeit und politischer Namenspolitik schaffen. Vertreter*innen der chaldäischen, syrischen und assyrischen Kirchen hatten mittlerweile politische Vereine und Parteien gegründet, der Streit um die Benennung der eigenen Gruppe (syrisch/assyrisch/chaldäisch) schwelte nun zusätzlich auf der politischen Ebene weiter und verhinderte vielfach eine Zusammenarbeit. So blieb die Politik syrischer Christen in den Ländern entlang von Fraktionen zersplittert, eine wirksame Organisation gegen eine immer stärker werdende Arabisierungs-, Türkisierungs- und Kurdifizierung der Minderheit in den Staaten schien nicht möglich. Die vollständige Assimilation in die jeweilige Mehrheitsgesellschaft nur noch eine Frage von Jahren.
Eine kleine Gruppe syrischer Christen in der Türkei nahm sich Ende der 80er Jahre den kurdischen Kampf in der Türkei um Minderheitsrechte als Vorbild für den eigenen politischen Kampf. Statt auf die Zugehörigkeit zu verschiedenen Stämmen, Kirchen oder Staatsangehörigkeiten sollte eine nationalistische, säkulare Identität stehen, die sich auf die Tradition syrischer Christen in Sprache und Kultur beruft. Diese Politik einer nationalistischen, säkularen und sozialistischen syrisch-christlichen Erneuerungsbewegung trägt den Namen „Dawronoye“, welcher grob übersetzt „die Modernen“ bedeutet. Die Verbindungen der Dawronoye zu mittlerweile militant agierenden PKK reichen zurück bis in diese Anfangszeit, später organisierten sich Anhänger*innen der Dawronoye nach ähnlichen Prinzipien: Kaderorganisation, revolutionärer Kampf im Untergrund und Militanz.
Ziel war dabei die Schaffung eines syrisch-christlichen Staates auf dem Kernsiedlungsgebiet der syrischen Christen, einer Heimstätte der Assyrer.
Dawronoye in Syrien und Irak
Seit den 90er Jahren gelang es der Dawronoyebewegung Anhänger*innen in sowohl Syrien als auch Irak zu gewinnen. Konservative assyrisch/chaldäisch/syriakische Parteien kritisieren seitdem die sozial-revolutionäre Haltung und die enge Zusammenarbeit mit der PKK. Außerdem fürchten sie, durch Angriffe auf die jeweiligen Vertreter*innen der kurdischen oder türkischen Mehrheitsgesellschaft um den eh schon gefährdeten Status der christlichen Minderheit. Im Zuge anti-christlicher Ausschreitungen im kurdischen Teil des Iraks Anfang der 2000er und der drohenden Auslöschung in Syrien und Irak durch den Islamischen Staat konnten sich Parteien und Milizen aus dem Dawronoyespektrum aber konsolidieren. Unabhängig von der kurdischen Sicherheitsstruktur bewaffneten assyrische Milizen in der Region Nineveh Teile der christlichen Bevölkerung und stellten eigene bewaffnete Verbände zum Schutz auf.
In Syrien entstand ab 2005 die Partei der Syriakischen Union, die sich ebenfalls an die Ideale der Dawronoyebewegung anlehnt und diese um die Idee des Föderalismus in Syrien ergänzt. Ihr militärischer Zweig ist die mittlerweile international bekannte Miliz MFS, in der sich seit 2019 alle assyrisch-aramäischen Milizen in Nordostsyrien unabhängig von politischer Orientierung zusammengeschlossen haben. Die gemeinsamen Anfangsjahre mit Teilen der PKK und geteilte politische Vorstellungen ermöglichten Parteien aus dem Dawronoyespektrum eine verstärkte Koalition mit PKK-nahen Parteien, sowohl in Syrien als auch in Nordirak.
Der schwelende Namenstreit sowie die Zersplitterung und auch gezielte Instrumentalisierung durch nicht syrisch-christliche Parteien hat bisher eine gemeinsame Organisation aller syrischen Christen in Syrien und Irak verhindert. Es mutet daher fast wie eine bittere Ironie an, dass fast genau 100 Jahre nach dem Völkermord an den syrischen Christen die Nachkommen dieser erst in Irak vor djihadistischen Muslimen des Islamischen Staates fliehen mussten und während diese Zeilen geschrieben werden türkische Soldaten gemeinsam mit islamistischen arabischen Verbänden auf Tal Tamr marschieren.
Aussöhnung oder Abgrenzung
Das aktuelle Beispiel der Selbstverwaltung in Nordostsyrien zeigt, trotz aller Fehler und Schwachstellen, dass ein kooperatives und friedliches Miteinander der verschiedenen Volks-, Sprach-, und Religionsgruppen möglich ist. Nicht nur möglich, sondern sogar unabdingbar um den wiederkehrenden Kreislauf von Verfolgung, Ermordung, Rache und Feindseligkeit ein für alle Mal zu durchbrechen. Der Völkermord an den syrischen Christen und der Völkermord an den Armeniern wurde von türkischen Soldaten, kurdischen Milizen und arabischen Stämmen verübt und ermöglicht. In der Zwischenkriegszeit kam es sowohl in Irak als auch in Syrien zu Pogromen und Massakern an Christen armenischer und assyrischer Herkunft. Die Flucht vieler Kurden aus der Türkei in den 70er und 80er Jahren in den Nordirak und nach Nordsyrien, gepaart mit einer brutalen Arabisierungskampagne von Bashar al-Assad und Saddam Husein marginalisierten christliche Gemeinschaften zusätzlich und drängten sie an den Rand der kulturellen Auslöschung.
In den selbstverwalteten Gebieten Nordostsyrien ist zum ersten Mal seit Langem etwas gelungen, die friedliche Konsolidierung verschiedener Minderheiten nach innen, bei gleichzeitigem Beginn einer Aussöhnung nach außen. Diese Entwicklung ist gerade wieder akut in Gefahr. Familien, deren Vorfahren vor 100 Jahren geflohen sind, packen im Umland von Tal Tamr unter dem Druck türkischen Artilleriebeschusses ihre Habseligkeiten. Zu stark ähneln die Bilder plündernder Milizen unter türkischem Kommando denen von 1916.
Seyfo, der Völkermord an den syrischen Christen mag hierzulande bisher noch zu wenig bekannt sein, in Syrien und dem Irak ist er heute präsenter denn je.
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by CadusPR
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