Verhärtete Fronten – CADUS Jahresrückblick 2024
Das Jahr 2024 war für uns gleich in dreifacher Hinsicht besonders: wir feierten unser 10jähriges Jubiläum, starteten in unseren bisher herausforderndsten Einsatz und haben uns nach einigen arbeitsreichen Jahren endlich als Emergency Medical Team klassifiziert. Aber der Reihe nach.
Für uns schien das Jahr durchzogen von verhärteten Fronten, sowohl militärisch als auch gesellschaftlich: Krieg in Gaza, Krieg in der Ukraine, Demokraten gegen Republikaner in den USA, um nur einige Beispiele zu nennen. Mit einigen dieser Fronten wurden wir mal mehr, mal weniger direkt konfrontiert.
Gaza – eine Herausforderung
Anfang Februar, vier Monate nach den Anschlägen der Hamas in Israel und dem Kriegsbeginn auf palästinensischem Gebiet, konnten wir nach intensiver Planung unser medizinisches Team nach Gaza bringen. Damit waren wir gleichzeitig die erste deutsche Organisation und erstes deutsches EMT vor Ort.
Die Zerstörung, die sich uns von Beginn an besonders in Nord-Gaza zeigte, war massiv. Immer wieder begegneten uns in Richtung Süden fliehende Menschen. Foto: CADUS
In unserer damaligen Pressemitteilung heißt es vorausahnend: „Dies ist bisher der komplizierteste Einsatz unserer Organisation. Logistische Herausforderungen und die angespannte Sicherheitslage gehen einher mit der besonders schweren humanitären Krise im Gaza-Streifen.“ Seitdem sind wir ununterbrochen vor Ort im Einsatz.
Von Beginn an arbeiteten wir eng mit unseren Kolleg*innen vom Palästinensischen Roten Halbmond zusammen, die angesichts der unmenschlichen Bedingungen unglaubliche Arbeit leisten. Unsere Teams unterstützten in Versorgungspunkten für Schwerverletzte und halfen in Notaufnahmen der überlasteten lokalen Krankenhäuser aus und behandelten so über 3700 Patient*innen.
Mit unseren Trainings vermitteln wir wichtiges Wissen zur Behandlung von schwerverletzten Patient*innen. Foto: CADUS
Mittlerweile führen wir vor allem sogenannte MedEvacs mit Schwerpunkt auf Nord-Gaza durch. MedEvacs, also Medical Evacuations, sind Transporte von Verletzten und Kranken zu und zwischen medizinischen Einrichtungen. Waren es zu Beginn vor allem Transporte innerhalb Gazas, haben wir in den letzten Monaten vermehrt als Teil einer internationalen Rettungskette Transporte an die Grenze durchgeführt. Dort werden die Patient*innen von anderen Organisationen übernommen und in Krankenhäuser im Ausland transportiert, da durch die massive Zerstörung eine adäquate medizinische Versorgung innerhalb Gazas häufig unmöglich ist. In 31 Transporten haben wir 156 Patient*innen evakuiert. Zusätzlich haben wir bisher neun medizinische Trainings mit 134 Teilnehmer*innen durchgeführt.
Die Verletzungen sind vielfältig: Schusswunden, Schrapnelle, Quetschungen, Brüche und Schürfwunden. Foto: CADUS
Hunderttausende Binnenflüchtlinge, die Gefahr von Bombardements und Gefechten zu jeder Zeit an jedem Ort und die defacto Blockade von Hilfslieferungen durch die israelische Armee erschwerten die Versorgung der Patient*innen aber fast bis ins unmögliche. Selbst für erfahrene humanitäre Helfer*innen war und ist die Intensität der Situation in Gaza eine erschreckende Neuheit.
Unter den Toten und Verletzten sind im Vergleich zu unseren bisherigen Einsätzen besonders viele Kinder. Foto: CADUS
Über 45.000 Palästinenser*innen wurden getötet und über 100.000 verletzt, darunter viele Kinder, Jugendliche und Alte. Unter den Toten sind auch 333 humanitäre Helfer*innen, die durch internationale Abkommen eigentlich besonders geschützt sind. Sind zwar vor allem palästinensische Helfer*innen (286) betroffen, erregen vor allem Vorfälle mit internationalen Opfern (13) Aufmerksamkeit. So zum Beispiel die Tötung von sieben Mitarbeiter*innen der World Central Kitchen durch israelischen Beschuss. Auch unsere Teams wurden trotz umfangreicher Absprachen schon mehrfach an ihrer Arbeit behindert, wurden von israelischen Soldaten festgehalten oder gefährlichen Situationen ausgesetzt.
Von Anfang an war uns bewusst wie heikel der Einsatz sein würde. Nicht nur wegen der Gefahren und logistischen Probleme, sondern auch wegen der öffentlichen Reaktionen. Wir als Organisation haben die verhärteten Fronten zum jahrzehntelangen Konflikt direkt in den eigenen Kommentarspalten zu spüren bekommen: wahlweise wurden wir als Antisemiten und Hamas-Unterstützer oder als von Israel und dem Westen kontrollierte Stiefelknechte bezeichnet.
Das Sterben ist in Gaza allgegenwärtig, trotz aller Bemühungen versterben auch immer wieder Patient*innen. Gleichzeitig geht das Leben weiter – Schwangere müssen versorgt werden und Kinder werden geboren. Foto: CADUS
Aber das können wir aushalten, für uns zählt der humanitäre Anspruch: Menschenleben retten und Leid lindern. Und zum Glück überwiegt auch der Zuspruch zu unserer Haltung. Dabei sind wir uns unserer besonderen Rolle bewusst, als humanitäre Organisation, die vor allem zu Beginn des Krieges als eine der wenigen internationalen Stimmen von vor Ort berichten konnte. Wir müssen immer wieder ausloten zwischen unserem Mandat als humanitäre Organisation, die sich den humanitären Grundsätzen verpflichtet fühlt, dem Anspruch Hintergrundinformationen und Kontext zu liefern und von dem zu berichten, was wir in den Einsätzen erleben und gleichzeitig unsere Teams im Einsatz und unsere Projekte nicht zu gefährden. Diese Gratwanderung gelingt uns mal mehr und mal weniger.
Jeder durchgeführte MedEvac ist ein Erfolg. Trotzdem warten nach verschiedenen Zahlen und Schätzungen zwischen 10.000 bis 30.000 Patient*innen auf eine Verlegung und eine angemessene Behandlung. Foto: CADUS
Nichtsdestotrotz werden wir unsere Bemühungen auch in diesem Jahr fortsetzen die Menschen in Gaza zu unterstützen. Vermehrt werden wir auch Trainings anbieten um die lokalen Strukturen zu stärken.
Unsere Forderungen an die Konfliktparteien bleiben dieselben: Kämpfe beenden, humanitäre Hilfe ermöglichen, Geiseln freilassen und Zivilist*innen schützen!
Ukraine – alte Pfade, neue Wege
In der Ukraine ist die Front ebenfalls verhärtet. Um jeden Meter wird in diesem Abnutzungskrieg gekämpft, in dem tausende Menschen geopfert werden. Seit Kriegsausbruch sind wir vor Ort, im Februar werden es drei Jahre sein. Auch im vergangenen Jahr haben wir mit medizinischen Trainings unterstützt und dabei von Januar bis Juni in 19 Kursen 261 Personen aus Rettungsdiensten und Freiwilligen-Initiativen aus- und fortgebildet.
Unsere Mitarbeiter*innen in der Ukraine leisten hervorragende Arbeit bei der Versorgung der Patient*innen. Foto: CADUS
Unsere Teams führen aus Sumy, Sloviansk und Dnipro weiterhin MedEvacs durch, also Patiententransporte meist aus Frontnähe in sicherere Gebiete. Spezialisiert sind wir auf Personal- und Ausrüstungsintensive intensivmedizinische Transporte, also beispielsweise Patient*innen, die beatmet werden müssen. 866 Patient*innen haben wir 2024 transportiert und dabei über 100.000km zurückgelegt.
Besonders ab Herbst sind die Bedingungen in der Ukraine schwierig, mit zunehmender Kälte und häufigen Störungen in der Strom- und Gasversorgung durch den ständigen Beschuss der russischen Armee. Für uns ist die Wartung unserer Rettungswagen herausfordernd, die schlechten Straßen und langen Wege verlangen den Fahrzeugen viel ab.
Ein weiteres Jahr in der kriegsgebeutelten Ukraine – ein Zustand, der auch für uns erschreckenderweise schon fast normal ist. Ein Krieg mit hunderten Toten täglich darf aber keine Normalität werden. Kein Mensch sollte für Geopolitik sterben müssen.
Die Versorgung von Patient*innen im Fahrzeug, oft über mehrere Stunden, ist anspruchsvoll. Foto: CADUS
Auch 2025 werden wir unsere Aktivitäten in der Ukraine fortsetzen und sogar ausbauen. Anknüpfend an unsere Erfahrungen mit unserem mobile Makerspace werden wir Rahmen des GIZ-Projekts „Stärkung der urbanen Resilienz“ drei Aktivitäten im Osten und Südosten der Ukraine durchführen. Geplant sind derzeit Aktivitäten zur Förderung der Ausbildung von Mechanikerinnen sowie die Unterstützung weiterer lokaler Grass Roots Projekte zum Thema technische Resilienz.
CADUS goes EMT
Nach jahrelanger Vorarbeit und einem intensiven, mehrmonatigem Endspurt haben wir erfolgreich die Klassifizierung durch die WHO als Emergency Medical Team (EMT) 1 mobile und fixed abgeschlossen. Damit sind wir die jüngste Organisation, die bisher diesen Status erreicht hat und die Erste in Europa, die gleichzeitig in zwei Kategorien klassifiziert wurde.
Als Abschluss der Klassifikation müssen die angehenden EMTs der Prüfer*innen der WHO zeigen, dass sie für die Einsätze vorbereitet sind. Wir haben unser Team, unsere Ausrüstung und eine Menge Dokumente und Abläufe vorgestellt. Foto: CADUS
Wir sind stolz darauf jetzt Teil des internationalen EMT-Netzwerkes zu sein, das nach einem gemeinsamen Standard arbeitet. Dadurch wird die hohe Qualität der humanitären Nothilfe garantiert und eine Zusammenarbeit zwischen den Organisationen erleichtert. Auch in Zukunft werden wir uns am Austausch und der Entwicklung des EMT-Netzwerkes beteiligen und an gemeinsamen Übungen wie im Ahrtal teilnehmen.
10 Jahre CADUS
Die Klassifizierung und unser Jubiläum feierten wir mit einer großen Party in Berlin mit Live-Bands, Djs und Redebeiträgen von Wegbegleiter*innen.
Eine unserer ersten Einsätze, damals noch unter unserem alten Namen PHNX: medizinisches Notfall-Training in Nordostsyrien, 2015. Foto: CADUS/Christoph Löffler
Als CADUS 2014 gegründet wurde hatte niemand damit gerechnet, dass aus einer kleinen Initiative aus dem Festival-Umfeld eine international agierende humanitäre Hilfsorganisation werden würde mit X Mitarbeiter*innen, hunderten Volunteers und Einsätzen in Syrien, Irak, auf dem Mittelmeer, Griechenland, Gaza, Ukraine und vielen anderen Orten. Und am allerwichtigsten: dass wir mittlerweile tausenden Menschen direkt oder indirekt in Notzeiten unterstützen konnten – und das auch weiterhin tun werden.
Mit unserem Beitritt in die Vollgut-Genossenschaft, einem gemeinwohlorientierten Bauprojekt in Berlin Neukölln, hoffen wir mit neuen Räumlichkeiten das Fundament für die nächsten Jahrzehnte CADUS gelegt zu haben.
Aussicht – Einsatz im Sudan
Zum Jahresende gab es dann noch überraschende Nachrichten aus Syrien: der ehemalige Diktator Assad wurde fast über Nacht entmachtet und musste fluchtartig das Land verlassen. Mit der Freude kamen aber auch schnell Sorgen darüber auf, wie die neuen Machthaber regieren werden. Wie unsere lokalen Partner berichten, steht besonders Nordostsyrien unter Druck: Angriffe des türkischen Militärs und verbündeter Milizen, die die derzeitige Unsicherheit in Syrien für ihre Ziele nutzen, das befürchtete Wiedererstarken des IS und eine erneute drohende humanitäre Krise dämpfen die Freude über das Ende des Assad-Regimes. Wir sind mit unseren lokalen Partnern im engen Austausch über eine mögliche Unterstützung. Auch in Syrien scheint die Zeit der Fronten noch lange nicht beendet zu sein.
Unsere Partner vom Kurdischen Roten Halbmond haben reagiert und für die Binnenflüchtlinge Zelte und Lebensmittel bereitgestellt. Foto: Kurdischer Roter Halbmond (KRC)
Mit einer für uns neuen Front werden wir mit unserem geplanten Einsatz im Sudan konfrontiert sein. Bereits seit einigen Monaten planen wir dort tätig zu werden. Seit April 2023 tobt dort ein kaum beachteter Krieg zwischen verschiedenen Fraktionen der Sudanesischen Armee, die in der Folge zur schwersten Hungerkrise seit Jahren geführt und über 10 Millionen Sudanes*innen zur Flucht gezwungen hat. Noch gibt es einige logistische Hürden zu überwinden, aber wir sind zuversichtlich noch im Winter mit einem ersten Team im Sudan aktiv zu werden.
Viele der Fronten scheinen von außen starr und festgefahren. Bei näherer Betrachtung kann man aber feststellen, dass sie im Kleinen durchaus beweglich sind. Besonders die gesellschaftlichen Fronten sind sehr dynamisch und können sich in vielen kleinen Schritten verändern.
Solange sich etwas bewegt, kann es sich auch ins Bessere verschieben. Dafür müssen wir aber aktiv gestalten, uns einmischen und einbringen. Genau das werden wir mit deiner Unterstützung auch 2025 machen!
by Jonas Gruenwald
Gaza – Der Traum ist aus
Die humanitäre Katastrophe in Gaza verschärft sich zunehmend. Der Süden ist ein einziges großes Flüchtlingscamp, der Norden komplett verwüstet und von einer großen Hungersnot bedroht. Die Kämpfe dauern an. Immer wieder erleiden Menschen Explosionsverletzungen oder werden unter Trümmern begraben. Doch
Pressemitteilung 29.01.2024
Nothilfe-Einsatz in Gaza: Berliner Organisation entsendet Team Die Berliner humanitäre Nothilfe-Organisation CADUS entsendet Anfang Februar ein medizinisches Team nach Gaza. CADUS wird damit das erste deutsche Emergency Medical Team (EMT) im Gaza-Streifen sein. CADUS-Gründer und CEO Sebastian Jünemann erklärt: „Dies
Humanitäre Krise im Gaza-Streifen
Der erste medizinische Nothilfe-Einsatz von CADUS im Gaza-Streifen steht kurz bevor. Was wird unser Team vor Ort vorfinden? Die Bilder der katastrophalen humanitären Lage, die wir aus den Medien kennen, werden in UN-Berichten und weiteren Quellen mit Zahlen untermauert.
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